Natur- und Wirkstoffe: Einzigartige Potenziale für Medizin und Pharmazie 

Im Sommer 2022 haben Sie an der Universität Bayreuth eine Tagung zum Thema „Natur- und Wirkstoffe“ veranstaltet, an der zahlreiche Expert*innen aus dem In- und Ausland teilgenommen haben. Was versteht man in der Forschung unter Naturstoffen?

Frank Hahn: Naturstoffe sind Moleküle, die von Organismen wie Bakterien, Pflanzen und Pilzen gebildet werden, um sich einen Überlebensvorteil zu verschaffen. Dabei geht es beispielsweise darum, Konkurrenzorganismen in Schach zu halten. Diese biologische Aktivität der Naturstoffe kann sich der Mensch zunutze machen. Ein weithin bekanntes Beispiel aus dem Bereich der Wirkstoffe sind die Penicilline. Pilze bilden diese Naturstoffe zur Bekämpfung von Bakterien. In der Medizin werden sie dementsprechend schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Antibiotika für die Behandlung bakterieller Infektionen eingesetzt. Heute haben viele molekulare Wirkstoffe für die Therapie von mikrobiellen Infektionen und Krebserkrankungen ihren Ursprung im Bereich der Naturstoffe. Das Spektrum möglicher Anwendungen umfasst darüber hinaus auch einen Einsatz im Agrarsektor, als Lebensmittelzusatzstoffe oder als Duftstoffe.

Welches waren die hauptsächlichen Ergebnisse der Tagung hinsichtlich der Anwendungen von Naturstoffen in Medizin und Pharmazie? Gibt es dabei auch Verbindungen zur Lebensmittelforschung?

F.H.: Im Fokus standen vor allem die Gegenwart und die Zukunft der Naturstoffe in der Wirkstoffforschung. Trotz des bisher enormen Erfolgs dieser Verbindungen ist klar, dass ein großer Teil ihres Potentials heute noch gar nicht genutzt werden kann. Daher bedarf es verstärkter interdisziplinärer Anstrengungen, um Wirkmechanismen besser zu verstehen, Wirkstoff-Entwicklungsprozesse zu beschleunigen und effizientere Herstellungswege zu entwickeln. Besondere Aufmerksamkeit wurde darüber hinaus der zunehmenden Antibiotika-Resistenz von Krankheitserregern gewidmet: Viele aktuell eingesetzte Wirkstoffe verlieren dadurch zumindest teilweise ihren therapeutischen Wert. Die Forschung an Naturstoffen kann in besonderer Weise dazu beitragen, das Arsenal effektiver Wirkstoffe wieder aufzufüllen.
Im Bereich der Lebensmittelforschung sind von Pflanzen gebildete Naturstoffe, die sogenannten „sekundären Pflanzenstoffe“, von großem Interesse. Diese sind ein bedeutender Bestandteil einer gesunderhaltenden Ernährung. Ein besseres Verständnis dieser Verbindungen eröffnet beispielsweise neue Möglichkeiten, Nahrungsmittel mit höherem Nährwert zu erzeugen oder Anbaumethoden effektiver und nachhaltiger zu gestalten.

In welchen Bereichen werden Naturstoffe künftig noch stärker als heute zur Förderung einer gesunden Lebensweise und zur Bekämpfung sogenannter „Volkskrankheiten“ beitragen können

F.H.: Allgemein ist auch hier das Potential der Naturstoffe für die Entwicklung molekularer Wirkstoffe zu nennen. Die Effekte natürlich vorkommender biologisch aktiver Stoffe in Lebensmitteln, beispielsweise der in vielen Pflanzen anzutreffenden, entzündungshemmend und krebsvorbeugend wirkenden Polyphenole, inspirieren außerdem die Vorstellung, dass durch eine gezielte Ernährung die Prävention bestimmter Erkrankungen in gewissem Maße möglich ist.

Sollten Universitäten und außeruniversitäre Institutionen bei innovativen Anwendungen von Naturstoffen enger kooperieren – nicht zuletzt mit Blick auf die praxisnahe Ausbildung von Studierenden und von Nachwuchswissenschaftler*innen?

F.H.: Eine enge Kooperation über die Grenzen der Fächer und Institutionen ist wichtiger denn je. Trotz des unbestrittenen Potentials von Naturstoffen haben sich in den vergangenen Jahren viele Pharmaunternehmen eher anderen Wirkstoffkonzepten zugewandt. Dies liegt daran, dass Wirkstoffentwicklung ausgehend von Naturstoffen aktuell oft als wirtschaftlich risikobehaftet angesehen wird. Kompensiert wird dieser Rückzug zumindest teilweise durch ein forschungspolitisch gewolltes verstärktes Engagement anderer Akteure, wie Universitäten und Forschungszentren. Eine stärkere Beteiligung industrieller Partner wird aber natürlich weiterhin angestrebt. Es würde sicherlich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eine größere Zahl von Verfahren zur Entwicklung neuer Wirkstoffe erfolgreich abzuschließen.

Können Erkenntnisse aus der Naturstoff-Forschung künftig auch bei der Vorbeugung oder Bekämpfung von Epidemien eine Rolle spielen?

F.H.: Zurzeit ist die Welt verständlicherweise auf die viral verursachte Corona-Pandemie fixiert. Doch aufgrund der bereits erwähnten Resistenzproblematik werden die mikrobiellen Infektionskrankheiten zukünftig wieder stärker in den Fokus rücken. Durch die Effektivität verfügbarer Antibiotika ist leider etwas in Vergessenheit geraten, dass diese Krankheiten bis vor wenigen Jahrzehnten noch als Geißel der Menschheit gesehen wurden und weltweit eine enorme Krankheitslast verursachten. Molekulare Wirkstoffe, insbesondere solche aus dem Bereich der Naturstoffe, werden für deren effektive Bekämpfung auch weiterhin essentiell sein. Dies gilt übrigens aller Voraussicht nach auch in einer Welt, in der mRNA-Impfstoffe und Gentherapien als Optionen etabliert sind.

Die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) schreibt auf ihrer Homepage: „Die Nachhaltige Chemie ist die Schlüsseldisziplin, die die Zukunftsfähigkeit der Industriegesellschaft sichern wird. Es geht um nachhaltige Beiträge der Chemie zu allen Lebensbereichen“. Was können Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Naturstoffe zu einer nachhaltigen Chemie beitragen?

F.H.: Die gezielte ressourcenschonende Herstellung von Naturstoffen ist seit jeher ein Treiber der Entwicklung effizienter Methoden in der Chemie und der Biotechnologie. Diese Methoden finden regelmäßig auch in anderen Bereichen der chemischen und pharmazeutischen Chemie Anwendung. Weiterhin haben Naturstoffe als natürliche Verbindungen günstige Eigenschaften. Sie zeichnen sich beispielsweise durch eine bessere biologische Abbaubarkeit aus, die sie gegenüber Substanzen nicht-natürlichen Ursprungs zu einer nachhaltigeren Alternative machen.

Prof. Dr. Frank Hahn

Prof. Dr. Frank HahnOrganische Chemie (Lebensmittelchemie)

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