
Wenn Spekulation zu Politik wird
Wissenschaftler*innen der Universität Bayreuth und der University of California Davis beleuchten das Phänomen „Spekulation“ – eine in Corona-Zeiten hochaktuelle Fragestellung.
Die „Macht der wissenschaftlichen Evidenz“ erzeugt zwar den Eindruck, als wäre die Lage unter Kontrolle, doch bleibt die Frage, wann etwa die Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden können oder wie die Welt der Zukunft mit Corona aussehen könnte, weiterhin Spekulation. Wie wird das Covid-19-Virus mutieren und welche Impfstoffe greifen dann noch? Wie lange werden die Menschen sich an die Beschränkungen noch halten und wie wird sich das Infektionsgeschehen mit Lock-Down-Maßnahmen entwickeln? Welche Maßnahmen können gelockert werden und welche Effekte werden Schulöffnungen haben? In alldem spielt Spekulation eine zentrale Rolle.
Spekulation schafft Vertrauensdefizite
„Das evidenzbasierte Abschätzen von Risiko, das ist auch Spekulation – und solche Risikoabschätzung bestimmt das Handeln unserer Politik aktuell“, sagt Prof. Dr. Jeanne Cortiel im Gespräch mit „UBTaktuell“. Cortiel hat die Professur für Amerikanistik (Nordamerikastudien) an der Universität Bayreuth (UBT) inne und mit Kolleg*innen der UBT und der UC Davis den interdisziplinären Sammelband zu den „Praktiken der Spekulation“ herausgegeben. „Nehmen Sie die Masken“, sagt Cortiel im Gespräch mit der UBTaktuell: „Erst hieß es, sie seien nutzlos, nun gibt es Maskenzwang an vielen Orten – zunächst, weil die Wirksamkeit zu gering schien, nun ist plausibel, dass auch weniger als 100% Wirksamkeit genügt. Beide Entscheidungen sind daher nachvollziehbar, es gibt nun eben andere gesichertere Informationen als zuvor.“ Doch Cortiel warnt auch: „Das schafft ein Vertrauensproblem, da wir oft vergessen, dass Wissenschaft ein Prozess ist, der nie ein für allemal abgeschlossen sein wird.“ Christine Hanke (Lehrstuhl für Digitale und Audiovisuelle Medien, UBT) fügt hinzu: „Gleichzeitig sehen wir, dass im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bestehende Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten sich rekonstituiert und gefestigt haben. Es ist daher Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften, solche gesellschaftlichen Prozesse und politischen Entscheidungen kritisch zu reflektieren.“
Spekulation ermöglicht radikal neue Denkweisen
Insofern behandelt der Band DAS Thema der Stunde: „Dies ist ein Moment der Krise im großen Stil, und die erhöhten Unsicherheiten zwingen uns, alle Illusionen von Autonomie aufzugeben, um uns den Verwundbarkeiten von uns selbst und unseren lebenserhaltenden Systemen voll und ganz zu stellen. Die Zukunft hat sich auf radikal neue Weise geöffnet, und die spekulativen Praktiken, die diesem Band seinen Titel geben, werden offensichtlich relevant“, schreiben die Herausgeber*innen im Vorwort. Spekulation ist nämlich nicht nur in der aktuellen Politik das herrschende Prinzip – sie spielt in zahlreichen Themenfeldern unserer Kultur eine wichtige Rolle und ermöglicht das Denken einer radikalen Veränderbarkeit von Zukunft. Und so erläutert der Band Praktiken der Spekulation in der Geschichte und der Literatur, in Comics und Computerspielen, in der Forschung zu Schimmel und in performativen Forschungsansätzen der empirischen Sozialforschung und fragt dabei sowohl nach den schließenden, firmativen, als auch den öffnenden, affirmativen Dimensionen des Spekulativen.
Aus dem Inhalt:
Prof. Dr. Susanne Lachenicht, Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit, hat einen Beitrag über „Cultures of Speculation—Histories of Speculation“ verfasst. Sie beleuchtet die Geschichte spekulativer Praktiken in der frühen Neuzeit und wie sie sich in der Renaissance und den sogenannten Entdeckungsreisen der Kolonialzeit entwickelten, und zwar sowohl in Wahrscheinlichkeits- und Risikoberechnungen als auch in Reisenarrativen und Utopien. Diese Entwicklungen ermöglichen einen neuen Blick darauf, wie gegenwärtige Spekulationen Machtkonstellationen aufbrechen oder konsolidieren.
Dr. Felix Raczkowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Digitale und Audiovisuelle Medien an der UBT schreibt über: „The Rule of Productivity and the Fear of Transgression – Speculative Uncertainty in Digital Games“. Er fragt danach, wie digitale Spiele Unbestimmtheiten in Szene setzen und welche Formen der Spekulation hier zum Einsatz kommen. Unbestimmtheiten in digitalen Spielen werden dabei mit Blick auf zwei Dimensionen untersucht: Sie sind einerseits eine notwendige Bedingung für das Spiel (da man sonst ja schon wüsste, wie es ausgeht), sie beinhalten aber auch konkrete Risiken, wie etwa Sabotageakte durch einzelne Spieler*innen – die durch Sanktionen wiederum verhindert werden sollen.
Christoph Schemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am UBT-Lehrstuhl Kulturgeographie, setzt sich in seinem Artikel zu „Spores of Speculation – Negotiating Mold as Contamination“ mit der Wissensproduktion um Schimmel als sozio-materieller Form der Spekulation auseinander, die beispielhaft verdeutlicht, wie antizipierte Bedrohungen menschlicher Gesundheit durch vorbeugende Taktiken begrenzt werden. Diesem Beispiel firmativer Praktiken, die Zukunft in Schach halten, setzt Schemann urbane Praktiken wie „dumpster diving“ entgegen, die Dimensionen der „Kontamination“ für eine mehrstimmige und nuancierte Auseinandersetzung mit Kontingenz nutzen.
Prof. Dr. Wolf-Dieter Ernst, Professor für Theaterwissenschaft an der UBT, und Dr. Jan Simon Hutta (wissenschaftlicher Assistent am UBT-Lehrstuhl Kulturgeographie) zeigen in ihrem interdisziplinären Beitrag zu „Enacting Speculation – The Paradoxical Epistemology of Performance as Research“, auf welche Weise die Produktion von Wissen, auch und gerade in den Wissenschaftskulturen des Globalen Nordens, von körperlichen und performativen Praktiken abhängt. Basierend auf Forschungen zu „ performance as research” und einem interdisziplinären Seminar an der Universität Bayreuth untersuchen sie das Potential dieser Praktiken nicht nur für neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch für ganz neue Formen des Wissens.
Prof. Dr. Matthew Hannah, Inhaber des Lehrstuhls für Kulturgeographie, und Prof. Dr. Sylvia Mayer, Inhaberin des Lehrstuhls für Amerikastudien / Anglophone Literaturen und Kulturen widmen sich gemeinsam dem Thema „Scale and Speculative Futures in Russell Hoban’s Riddley Walker and Kim Stanley Robinson’s 2312“. In ihrem Beitrag analysieren sie zwei Science Fiction-Romane, die sich mit aktuellen Schlüsseltechnologien auseinandersetzen: Atomkraft, künstliche Intelligenz, Biomedizin, und Geo-Engineering. In dieser interdisziplinären Analyse geht es vor allem um die räumliche Dimension der Zukunft in fiktionalen Welten – sowie die soziale Konstitution von Raum und Zeit im Kontext der Risiken technologischer Modernisierung.
Prof. Dr. Jeanne Cortiel, Professur für Amerikanistik (Nordamerikastudien), und Prof. Dr. Christine Hanke, Inhaberin des Lehrstuhls für Digitale und Audiovisuelle Medien, unternehmen in ihrem Text „Uncertainty between Image and Text in Ben Templesmith’s Singularity 7 - Interdisciplinary Perspectives on Narrative and Performance“ einen Dialog zwischen Bildwissenschaft und Erzähltextanalyse. Sie untersuchen, wie Comics die Beziehung zwischen Bild und Text nutzen, um spekulative Narrative und Imaginationsräume zu erzeugen, und diskutieren, inwiefern Spekulation konstitutiv für das Medium Comic ist. Die Autorinnen zeigen dabei, dass diese Qualität des Mediums den stabilisierenden Effekten von Geschichte und Bild entgegenwirkt – und somit Comics auf besondere Weise spekulativ macht.

