Lwiw von oben

Russland zieht Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen, NATO und EU ringen um eine Reaktion. Wie wird die angespannte Lage im Land selber wahrgenommen? Nicolai Teufel, Projektleiter am Fortbildungszentrum Hochschullehre der Universität Bayreuth (UBT), kommt gerade aus der Ukraine zurück und kann berichten, wie die Stimmung unter Hochschulangehörigen vor Ort ist.

UBTaktuell: Vor wenigen Tagen sind Sie aus Lwiw zurückgekommen. Wie wirken sich die gegenwärtigen politischen Spannungen auf das Leben in der Ukraine aus?

Nicolai Teufel: Wenn wir von „gegenwärtigen“ Spannungen sprechen, dann reflektiert das eher die Aufmerksamkeit, die wir dem Thema in Deutschland gegenwärtig widmen, als die Realität: Russland hat 2014 die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig besetzt und annektiert und unterstützt im Donbas mit regulären und irregulären Truppen einen Krieg gegen die Ukraine, der bisher rund 13.000 Menschenleben gekostet hat und laut UNHCR 1,5 Millionen Menschen zu Binnenvertrieben werden ließ. Auch die Drohung einer offenen Eskalation ist nach dem Zwischenfall in der Straße von Kertsch im November 2018 und einer ähnlichen Truppenkonzentration im April 2021 sowie ganz offen geäußerten neo-imperialen Plänen nicht neu.

Das klingt, als sei die gespannte Lage schon Dauerzustand. Wie leben die Menschen damit?

Der Alltag vor Ort hat sich nicht verändert - zumal die ukrainische Gesellschaft gelernt hat, mit Unsicherheiten umzugehen. Die Ukraine ist weiterhin ein sehr sicheres, offenes und nicht nur aus der EU und der Türkei, sondern zunehmend auch von jüdischen Pilgern und aus den arabischen Ländern gerne besuchtes Reiseland. Im Rahmen von Workshops, Exkursionen und Sommerschulen waren unter meiner Leitung seit 2015 mehr als 120 Studierende und Wissenschaftler in der Ukraine und haben sich nicht nur sicher gefühlt, sondern sind mit positiven Eindrücken, neuem Wissen und Kontakten zurückgekehrt. Einige davon sogar mit dem Plan, als Touristen oder Wissenschaftler zurückzukommen. Den Krieg spüren Sie vor allem an Orten wie der Garnisonskirche in Lwiw oder an der Allee in der Nähe des Sankt-Michaels-Klosters in Kyjiw mit Bildern von gefallenen Soldaten, die einen scharfen Kontrast zu dem quirligen Leben auf den Straßen und in den Cafés bilden. Dennoch ist klar: Selbst, wenn der Truppenaufmarsch von rund 150.000 Soldaten „nur“ eine Drohgebärde sein sollte und das Leben normal bleibt, führt die damit verbundene Unsicherheit dazu, dass ausländische Investitionen ausbleiben, Touristen nicht kommen oder vergessen wird, dass Lwiw 100km näher an Bayreuth als an der Kontaktlinie im Donbas liegt.

Die Teilnahme an der Sommerschule ist für die Gäste nicht nur lehrreich, sondern auch kulturell spannend.

Wie bewerten Studierende und Wissenschaftler*innen bei Ihren Partnern die Beziehungen zu Russland?

Der Konsens ist, dass niemand eine weitere Eskalation des Krieges möchte, es nur eine diplomatische Lösung geben kann und man sich Frieden wünscht. Auch mit Russland. Allerdings nicht zu den Konditionen Moskaus - Verzicht auf eine NATO- und EU-Integration, Abtretung der Krim und der sogenannten Volksrepubliken Donetsk und Luhansk. Der neoimperiale „Appetit“ des Kremls werde durch Appeasement eher gesteigert wird - dies ist die überwiegende Haltung meiner Gesprächspartner. Konsens an den Universitäten ist auch, dass die Ukraine einen westlichen Integrationskurs beschreiten sollte. Wir sollten nicht vergessen, dass die „Revolution der Würde“ auf dem Maidan 2013/ 2014 ganz wesentlich von Studierenden aus allen Landesteilen getragen wurde, die für die Assoziierung mit der EU und gegen den pro-russischen Präsidenten demonstriert haben. Unter den rund 100 Todesopfern der Proteste waren auch Studierende und Hochschullehrer unserer Partneruniversitäten. Und ja, trotz all ihrer Schönheitsfehler können die Prozesse in der Ukraine seit 2014 als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Nur ein Beispiel: Im Bildungsbereich wurden in den Jahren seit dem Maidan mehr Reformen implementiert als seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991. Und natürlich gibt es auch ganz praktische Vorteile wie die 2017 erhaltene Visa-Freiheit mit der Europäischen Union, die Hochschulzusammenarbeit ganz wesentlich vereinfacht.

Konsens an den Universitäten ist auch, dass die Ukraine einen westlichen Integrationskurs beschreiten sollte. Die EU ist daher für Universitätsangehörige ein wichtiger Partner. Hier in Lwiw. hängt auch eine EU-Flagge.

Können internationale Hochschul- und Wissenschaftskooperationen einen Beitrag dazu leisten, um den politischen Konflikt mit Russland zu befrieden?

Die Aufgabe von Wissenschaft sehe ich weniger in einer Befriedung von aktuellen politischen Konflikten als in deren objektiver, nachprüfbarer Analyse sowie der Vermittlung dessen an die Öffentlichkeit. Statt „Befrieden“ also eher „besseres Verstehen des Konflikts“. Internationale Wissenschaftskooperation kann eine Rolle in der Konfliktprävention spielen und im Widergewinnen von Vertrauen und Verständnis - wie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu braucht es aber ein Ende der Kampfhandlungen, Zeit und ein Umfeld, das auch eine kritische Wissenschaft und Zivilgesellschaft ermöglicht. Dann könnte ich mir auch wieder multilaterale Kooperationen vorstellen, an denen die Ukraine und Russland beteiligt sind und die idealerweise zunächst in einem Drittland wie Deutschland und in weniger sensiblen Bereichen wie Umweltfragen stattfinden sollten. Leider wurden zahlreiche potenzielle Projektträger aus der Zivilgesellschaft wie das Sacharow-Zentrum in Moskau und der Verein Deutsch-Russischer-Austausch in Russland als ausländische Agenten eingestuft. Das zeigt, dass kritische Stimmen nicht erwünscht sind. Hoffen wir, dass das sich ändert.

Haben Sie Spannungen zwischen Studierenden oder Dozierenden, die aus unterschiedlichen Regionen des Landes kommen und unterschiedliche Muttersprachen haben, bemerkt?

Nein. Aber hier muss man vielleicht für das deutsche Publikum etwas weiter ausholen: Ein gängiges Narrativ bezieht sich auf jene angebliche „Zweiteilung“ oder „Zerrissenheit“ der Ukraine in Ost und West, Russisch und Ukrainisch, die dann häufig vereinfachend als Ursache von Konflikten und Teilung angeführt wird. Vergessen wird, dass die Ukraine eine regionale Heterogenität weit über diese Zweiteilung hinaus hat, die im europäischen Vergleich vollkommen normal ist. Russischsprachig bedeutet zudem nicht, dass eine Integration mit Russland angestrebt wird. Ein großer Teil der Soldaten im Donbas, die für die territoriale Integrität der Ukraine kämpft, gibt Russisch als ihre Muttersprache an. Und vielleicht noch ein letzter Punkt: Auch das Gebiet, das landläufig als „traditionell prorussischer Osten“ bezeichnet wird, ist in den letzten Jahren immer kleiner geworden. Selbst in den Separatistenregionen, in denen Russland mit der Ausgabe von Pässen versucht, das Szenario aus dem Georgien-Krieg 2008 zu wiederholen, spricht sich laut Studien des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien Berlin eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Verbleib in der Ukraine aus. Konflikte zwischen Studierenden aus unterschiedlichen Regionen kann ich nicht erkennen. Im Gegenteil: British Council fördert seit mehreren Jahren im Programm „Ukraine Student Academic Mobility (SAM)“ innerukrainische Austauschsemester, die sich großer Beliebtheit erfreue.

Auch kulturelle Veranstaltungen gehören zum Austauschprogramm 

Auf welchen Gebieten sehen Sie Perspektiven für den weiteren Ausbau der Zusammenarbeit der UBT mit ukrainischen Partnern in?

Dies ist sicherlich das Feld „Lernen und digitale Technologien“. In der Ukraine fasziniert mich ungemein, wie in den Städten überall mit mobilen Endgeräten gelernt wird und vernetzt neues Wissen entsteht: Mit Podcasts in der Straßenbahn, im Café gemeinsam am Laptop mit Freunden, per Videokonferenz im Park, bei „Start-up battles“ in Businessinkubatoren oder in Kooperationen zwischen Universitäten und Firmen. Für Außenstehende mag es vielleicht überraschend klingen, aber Lwiw ist für mich mein persönliches Silicon Valley mit 25.000 Beschäftigten im IT-Bereich, hippen Cafés und unzähligen Coworking-Spaces, in denen ich selbst gerne arbeite, wenn ich unterwegs bin. Nur hat das Silicon Valley keine Altstadt vom Rang eines UNESCO-Weltkulturerbes zu bieten. Es freut mich daher besonders, dass wir gemeinsam mit dem Bayerischen Hochschulzentrum für Osteuropa (BayHOST) und dem Verbindungsbüro der Bayerischen Staatskanzlei in Kyjiw eine „Bavarian-Ukrainian Conference of Digital Education“ am 23. und 24. Juni 2022 in Bayreuth veranstalten werden.

Nicolai Teufel empfindet die digitale Bildung in der Ukraine als faszinierend. Auch Podcasts gehören dort zum Bildungsprogramm.

Hintergrund: die UBT und ihre Kontakte in die Ukraine

Am Fortbildungszentrum für Hochschullehre der UBT wird das Erasmus+-Projekt „UTTERLY“ koordiniert, bei dem einheitliche Kompetenzstandards und Zertifizierungsprozesse für die Weiterbildung von Hochschullehrern sowie „Centers of Teaching Excellence“ an acht ukrainischen Partneruniversitäten etabliert werden sollen. Außerdem koordinieren Bayreuther Forscher*innen das Projekt „Learnopolis+“ von DAAD und Bundesforschungsministerium. Die Universität Bayreuth, die Nationale Iwan-Franko-Universität Lwiw, die Nationale Wasyl-Stus-Universität Donetsk und die Nationale Pädagogische Universität Ternopil erarbeiten hier gemeinsam Massive Open Online Courses (MOOCs) für die Weiterbildung von Hochschullehrern zu den Themen „Internationale Zusammenarbeit“, „Inklusion“ und „Medienproduktion im Fremdsprachenunterricht“. Diese erscheinen auf der mit rund 1,8 Millionen Nutzern größten ukrainischen MOOC-Plattform Prometheus.org. Über diese Projekte hinaus gibt es einen regen Austausch in Form von Summer Schools, Studienreisen und Weiterbildungen.

Nicolai Teufel

Nicolai TeufelProjektleiter "Learnopolis.net“

Tel.: +49 (0) 921 / 55-4638
E-Mail: nicolai.teufel@uni-bayreuth.de

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