Vom 27. bis zum 30. August 2021 fand bereits zum siebten Mal die Summer Academy of Atlantic History statt. Das Thema lautete
„Atlantic Worlds between the Global and the National“.

Vor zwölf Jahren hat Prof. Dr. Susanne Lachenicht, Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth, die Summer Academy of Atlantic History initiiert. Christian Wißler fragte bei Prof. Dr. Susanne Lachenicht für UBTaktuell nach.

Was hat Sie dazu bewogen, das Spannungsverhältnis zwischen globalen und nationalen Orientierungen – und damit auch zwischen Nationalismus und Globalisierung – in den Mittelpunkt der diesjährigen Summer Academy zu stellen?

Nicht zuletzt die aktuellen Debatten zu diesem Thema bzw. das Spannungsverhältnis, das sich gerade auch in der Covid-19-Krise, Handelskriegen und Populismen zeigt. Zu diesem Thema ist auch ein Kooperationsprojekt in der Entstehung, für das Prof. Dr. Volker Depkat (Regensburg) und ich eine SFB-transregio-Antragsskizze bei der DFG eingereicht haben. Wir beschäftigen uns mit dem Verhältnis von Globalisierung und dem Nationalen, d.h. Begriffen von Nation, Nationalismen und (National-)Staaten, vom 16. Jahrhundert bis heute.

In der Atlantischen Geschichte wird das Spannungsfeld von Globalisierung, d.h. von zunehmenden Verflechtungen zwischen spezifischen Weltregionen und Akteur*innen einerseits und Nationalismen andererseits sehr kritisch und intensiv diskutiert. Es ist dabei unumstritten, dass Formen von Globalisierung eng mit imperialer Expansion und mit der Entwicklung von Staaten und Staatssystemen verbunden sind und durch nationalen Wettbewerb mit gepusht werden. Phasen von Globalisierung und Nationalismen ermöglichen sich gegenseitig.

In vielen Promotionsprojekten unserer Summer Academy ist dieses Spannungsverhältnis oft implizit das Metanarrativ, vor dem dann Fragen zu spezifischen Regionen und Akteur*innen gestellt werden. Eine Frage, die wir dieses Mal auch diskutiert haben, ist, ob dieses Metanarrativ, das uns heute so intensiv gesamtgesellschaftlich beschäftigt, nicht andere historische Entwicklungen zu sehr in den Hintergrund drängt.

Zahlreiche Vorträge- und Diskussionen nehmen Ereignisse und Entwicklungen vom 17. bis 19. Jahrhundert in den Blick. Könnte man sagen, dass die heute vielbeschworene „Globalisierung“ gar kein revolutionär neues Phänomen ist, sondern einen historischen Entwicklungsstrang darstellt, der sich – parallel zur Herausbildung der Nationalstaaten – durch die gesamte Neuzeit hindurchzieht?

Das hängt natürlich immer davon ab, wie man Globalisierung definiert. Manche gehen davon aus, dass man unter Globalisierung nur den integrierten globalen Markt bzw. die Entwicklung dorthin verstehen sollte. Andere sehen Wellen von Globalisierung und Deglobalisierung, teilweise schon seit der Frühgeschichte bzw. der Antike. Aus der Perspektive der Atlantischen Geschichte ist Globalisierung ein heuristischer Begriff, unter dem man die Bedingungen, Ursachen, Prozesse und Wirkungen von zunehmender Verflechtung von Menschen, Regionen, Orten, Wissen, Produktion, Distribution und Konsum analysiert, ebenso aber auch deren Grenzen.

Für die Frühe Neuzeit ist spannend zu analysieren, in welchem Zusammenhang die Globalisierungswelle der Frühen Neuzeit mit europäischer Expansion, Staatsbildungsprozessen und imperialen Konkurrenzen stehen und welche Rolle dabei Nationsbegriffe bzw. Nationalismen avant la lettre spielen. Aus dieser Position heraus muss man dann klar sagen, dass Globalisierungen keineswegs ein Phänomen des späten 20. und 21. Jahrhunderts sind, sondern immer wieder, wenn auch mit unterschiedlichen Reichweiten stattfinden.

Wie setzt sich der Kreis der Teilnehmer*innen an der Summer Academy in diesem Jahr zusammen, sind einige Herkunftsländer besonders stark vertreten?

Da es Ziel der Sommerakademie ist, einen Dialog zwischen unterschiedlichen akademischen Traditionen und Teilfächern der Geschichtswissenschaft zu ermöglichen, achten wir immer darauf, dass ein möglichst ausgeglichenes Verhältnis zwischen Doktorand*innen aus Nord-, Mittel- und Südamerika und Europäer*innen bzw. Afrikaner*innen vorhanden ist.

Wir schalten immer einen internationalen Call for Papers, sind aber damit letztendlich auf die Bewerbungen angewiesen, die wir bekommen. Die meisten Bewerbungen kommen von US-amerikanischen Universitäten, oft von Harvard, Yale, Princeton, der Columbia oder der Johns Hopkins University. Hier ist die Atlantische Geschichte sehr stark vertreten, ebenso in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Portugal und Spanien, d.h. aus den Staaten, die ehemals Kolonien in Amerika und der Karibik hatten.

In diesem Jahr haben wir Doktorand*innen von der Johns Hopkins University, der UC Davis, der University of Illinois at Urbana-Champaign, der University of Edinburgh, der Monash University in Australien, der Université Lyon-Lumière, der Pompeu Fabra in Barcelona und der LMU München mit dabei. Die institutionelle Anbindung verdeckt dabei aber, woher die Doktorand*innen ursprünglich kommen, beispielsweise auch aus Brasilien oder aus afrikanischen Ländern. Die Tutor*innen, d.h. unsere international Expert*innen, kommen von der Universität Galway mit dem ehemaligen Mitglied des European Research Council, Prof. Nicholas Canny, von der Pablo Olavide in Sevilla, vom Wilberforce Institute for the Study of Slavery and Emancipation in Hull, von den Universitäten Paris Diderot, Versailles-Saint Quentin, Rostock, Bremen und Regensburg.

Wie ist eigentlich der Plural „atlantische Welten“ im Titel zu verstehen? Sind hauptsächlich unterschiedliche Großregionen – wie beispielsweise Nordamerika, Westeuropa, die Karibik oder Südafrika – gemeint oder zugleich auch die verschiedenen Vorstellungswelten und Weltsichten, die sich historisch auf beiden Seiten des Atlantiks herausgebildet haben?

Es ist beides gemeint, dazu aber auch, dass wir es mit unterschiedlichsten historischen Akteur*innen zu tun haben, die in mal mehr, mal weniger verbundenen Welten lebten und dabei sehr unterschiedliche, sich historisch wandelnde Lebensbedingungen und Möglichkeiten hatten. Atlantische Geschichte und damit atlantische Welten meint vor allem aber auch die Analyse der Konstruktion dieser Welten aus unterschiedlichen Akteursperspektiven durch imperiale Expansion, Kriege, erzwungene oder freiwillige Mobilität, durch Produktion und Konsum, durch den gewaltsamen oder freiwilligen Austausch von Wissen, das Entstehen neuer Kulturen und Gesellschaften.

Welches sind die inhaltlichen Schwerpunkte der diesjährigen Summer Academy, und wie ordnen sie sich in die gegenwärtige geschichtswissenschaftliche Diskussion ein?

Es gibt nicht die eine geschichtswissenschaftliche Diskussion, auch nicht in der Atlantischen Geschichte. Wir bringen in der Summer Academy Expert*innen mit unterschiedlichsten Forschungstraditionen und Paradigmen zusammen, nicht zuletzt auch um festzustellen und zu diskutieren, wie stark unsere Forschungsgegenstände von Gegenwartsdiskussionen geprägt sind. Dabei gibt es global diskutierte Themen, aber auch nationale, regionale und lokale Partikularismen. Interessant ist zu sehen, wie unterschiedlich diese Dinge in unterschiedlichen Ländern und Institutionen, in unterschiedlichen Teilbereichen der historischen Forschung gehandhabt werden. Das größte Problem von Forschung sind die Scheuklappen, das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der Forschung, die in anderen Teilbereichen passiert und relevant für die eigenen Themen wäre. Das versuchen wir zumindest für die Forschung in der Atlantischen Geschichte aufzubrechen.

Inhaltliche Schwerpunkte sind dieses Mal eben die Fragen von Globalisierung und Nationalismus, die in allen beteiligten Ländern diskutiert werden, damit verbunden Wirtschaftssysteme, interimperiale Konflikte, Sklaverei in unterschiedlichsten Regionen und Phasen der Atlantischen Welt der Frühen Neuzeit, Urbanisierung, Wissen und Archive, eine Arbeit zur Karibik, die sich kritisch damit auseinandersetzt, dass wir uns in Bezug auf koloniale Welten fast ausschließlich mit dem Tag auseinandersetzen und nie fragen, was koloniale Gesellschaften eigentlich zur Nachtzeit für welche Akteur*innen bedeuteten.

Welchen Einfluss haben die aktuellen Debatten um das Konzept des Postkolonialismus auf die Summer Academy? Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang zwischen einem „Globalen Norden“ und einem „Globalen Süden“ unterschieden. Wie lässt sich eine solche Abgrenzung angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen begründen?

Atlantische Geschichte beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Entstehung und Effekten von Kolonisation, lokal, regional und makrostrukturell, aus unterschiedlichen Akteursperspektiven, für unterschiedliche Zeiträume, mit Beziehungen, Verflechtungen auf unterschiedlichen Ebenen, lokal, regional, transregional, global.

Besonders intensiv ist das Thema der Versklavung von Afrikaner*innen bzw. der indigenen Bevölkerung Amerikas vertreten. Das sehen wir nicht zuletzt auch sehr deutlich an den Bewerbungen von Doktorand*innen, die bei uns auf unsere Calls for Papers eingehen. Atlantische Geschichte beschäftigt sich damit mit der Depeuplierung Afrikas, mit der „racialization of labour“ als Grundlage frühneuzeitlicher Wirtschaftssysteme und Gesellschaften, mit den lokalen und regionalen Variationen von Versklavung und Freiheit. Sie diskutiert gerade aktuell wieder sehr „heiß“, inwieweit die industrielle Revolution, eigentlich muss man von industriellen Revolutionen sprechen, durch die Plantagenwirtschaft, basierend auf Sklaverei, mit ermöglicht wurde, inwieweit Gesellschaften die Versklavung von Menschen einfach ignorierten, wenn sie Produkte wie Zucker, Indigo, Tabak, Baumwolle oder Kaffee konsumierten.

Prof. Trevor Burnard, Direktor des Wilberforce Institute for the Study of Slavery and Emancipation in Hull, hat in seiner Keynote Lecture am Freitagabend deutlich gemacht, dass diese Ignoranz der Entstehungskontexte und -bedingungen unserer Konsumgüter auch heute bei vielen Menschen vorhanden ist, trotz eines wachsenden Bewusstseins für die sozialen und ökologischen Missstände in vielen Herkunftsländern, für die menschenverachtenden Arbeits- und Lebensbedingungen vor Ort.

Die aktuellen Debatten um das Konzept des Postkolonialismus bzw. Bewegungen wie die des „Black Lives Matter“ machen deutlich, dass unsere Forschung in diesen Diskussionen berücksichtigt werden sollte. Differenzierte Analysen der Funktionsweisen von Kolonialismus sind notwendig, um wirklich miteinander diskutieren und Standpunkte verstehen zu können.

Konstruktionen wie der „Globale Norden“ und der „Globale Süden“, „Western Hemisphere“ oder der „Westen“ werden dabei kritisch hinterfragt bzw. die Entwicklung dieser Konzepte analysiert und in ihren Wirkungen problematisiert. Solche Kategorien sind sehr essentialisierend für alle Beteiligten und verdecken Komplexität, Interdependenzen, aber auch Mechanismen, wie Kolonisierung überhaupt möglich ist. Guter historischer Forschung muss es immer um beides gehen, um Makrostrukturen, aber auch um das Spezifische, das Individuelle, wie diese Ebenen oder Scales zusammenhängen bzw. sich wechselseitig hervorbringen.


Welche Rolle spielt der Begriff des „Westens“, als einer zivilisatorischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einheit, in der historischen Forschung heute? Gilt er als obsolet oder weiterhin als tragfähiges Konzept für die geschichts- und sozialwissenschaftliche Theoriebildung?

Der Begriff des „Westens“ ist ein historischer Begriff, mit dessen Genese und Auswirkungen man sich nach wie vor auseinandersetzen muss. Die Atlantische Geschichte, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren von Robert Palmer und Jacques Godechot im Kontext des Kalten Krieges begründet worden war, ist in dieser Zeit als Geschichte der Entstehung des Westens, der von Freiheit und Demokratie geprägt sei, verstanden worden.

Teile der Atlantischen Geschichte sehen das seit einigen Jahrzehnten sehr kritisch. Empirische Studien zeigen vielmehr, dass der Aufstieg des so genannten Westens von Unfreiheit, der Versklavung und Ausrottung von Millionen von Menschen, von Gewalt und nicht endenden Kriegen geprägt war. Zudem ist sowohl durch die Forschungen der Atlantischen Geschichte als auch der transatlantischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert klargeworden, dass es diese zivilisatorische, kulturelle und wirtschaftliche Einheit des Westens gar nicht gibt.

Zur weiteren Lektüre:

Susanne Lachenicht, als Hrsg., Europeans Engaging the Atlantic. Knowledge and Trade, 1500-1800. Frankfurt/Main, New York, Chicago: Campus und University of Chicago Press 2014.

Susanne Lachenicht, als Hrsg. mit Charlotte Lerg und Michael Kimmage, The TransAtlantic Reconsidered. Manchester: Manchester University Press 2018 (paperback 2020).

Susanne Lachenicht, The Summer Academy of Atlantic History (SAAH), The Yearbook of Transnational History 1 (2018), S. 245-252 (Vancouver/BC: Fairleigh Dickinson University Press).

Susanne Lachenicht, Transregions from Early Colonization to post-Cold War: Multiple Atlantics, in: Matthias Middell (Hrsg.), Handbook of Transregional Studies. London: Routledge 2018, S. 95-101.

Susanne Lachenicht, How the Americas Came to Be Known as “the Americas”. A Historical Approach to the Western Hemisphere, in: Volker Depkat, Britta Waldschmidt-Nelson (Hrsg.), Cultural Mobility and Knowledge Formation in the Americas, Heidelberg: Winter 2019, S. 13-29 (Publications of the Bavarian American Academy, Bd. 20).

Prof. Dr. Susanne LachenichtLehrstuhlinhaberin

Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit
Kulturwissenschaftliche Fakultät
Universität Bayreuth
Universitätsstraße 30 / GW II
Telefon: +49 (0) 921 / 55-4190
E-Mail: susanne.lachenicht@uni-bayreuth.de
www.fruehe-neuzeit.uni-bayreuth.de

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