Mitten in der Corona-Pandemie fand ein Kompendium aus vier kleinformatigen Büchern in das Forschungsinstitut für Musiktheater in Thurnau. Es stammt aus der umfangreichen Bibliothek der Grafen Giech, die bis ins 19. Jahrhundert in der Herrschaft Thurnau Hof hielten. Zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Andrea Zedler beschrieb die Musikwissenschaftlerin Dr. Silvia Bier den Fund erstmals in einem Artikel in der Regionalpresse. Aber die handgeschriebene Sammlung ließ Silvia Bier nicht mehr los und so begannen ausführliche Recherchen. Es handelt sich um sogenannte Kontratänze, die in einem der Bände mit graphisch aufgezeichneten Tanzfiguren festgehalten wurden, während in den drei anderen Bänden die zugehörige Musik für zwei Violinen und Bass notiert wurde. Kontratänze, auch Anglaisen oder Cotillons genannt, waren eine im 18. Jahrhundert sehr beliebte Art des Gesellschaftstanzes, die in der Gruppe getanzt wurden. Als Teil des adligen Gesellschaftslebens waren sie auch formalisiertes Kennenlernspiel, da man im Laufe eines Tanzes auch einen Moment vergleichsweise ungezwungenen Kontakts schuf: eine Art Speed-Dating in der Feudalgesellschaft.

Wer die Bücher verfasst hat, lässt sich nicht endgültig klären. Die sprachliche Gestaltung mit deutlich fränkisch-dialektalem Einschlag und die Qualität der Notation lassen jedoch vermuten, dass es sich um ein Mitglied des Thurnauer Hofes gehandelt hat. Die Musik wiederum deutet auf die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, und damit in die Regierungszeit des Grafen Christian Friedrich Carl von Giech (1729-1797), dem vielleicht schillerndsten Herrscher Thurnaus, der Kunst, Musik und einen extravaganten Lebensstil an dem kleinen Hof zwischen Bayreuth und Bamberg pflegte.

Im Wintersemester 2021/22 war das Tanzbüchlein Gegenstand eines Seminars zu historischem Tanz, in welchem die Studierenden auch praktisch die Quelle erkundeten und die Tänze rekonstruierten. Aber auch die Gepflogenheiten der historischen Tanzkultur, Umgangsformen und Bewegungsästhetik der gesellschaftlichen ‚Performance‘ des 18. Jahrhunderts waren Gegenstand des Seminars. Auf diese Weise entstand schließlich die Idee, das Fundstück und seine Geschichte anschaulich der Öffentlichkeit zu präsentieren: ein Ball am mutmaßlichen Originalschauplatz, dem Ahnensaal auf Schloss Thurnau. Als kulturelle Praxis sind die Kontratänze Teil des gesellschaftlichen Lebens der Aristokratie und der höfischen Kultur gewesen, die uns heute fremd ist. Nichtsdestotrotz sind sie auch eine soziale Praxis, die durchaus auch in der Gegenwart noch wirksam werden kann: das gemeinsame Tanzen mit bekannten und fremden Menschen gleichermaßen setzt eine nonverbale Kommunikation in Gang, die sich unmittelbar erschließt, auch wenn wir sie in dieser Form aus dem Alltag nicht mehr kennen. Auf diese Weise konnten die Gäste des Balls ein Stück Kulturgeschichte erkunden, das durch das Giech’sche Tanzbüchlein regionalen Bezug bekam und nicht nur in einer abstrakten Vergangenheit erschien.

Getanzt wurden rekonstruierte Tänze aus dem Tanzbüchlein, aber auch französische und englische Kontratänze, die im 18. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet waren. Die Studierenden ergänzten das Abendprogramm durch Arien und Lieder, ein geselliges Spiel um eine Ananas – ein Luxusgut im 18. Jahrhundert – und ein fulminantes Ende des Abends am Schlossweiher mit einem Feuerwerk.

Flankiert wurde der Ball von einer kleinen Ausstellung im Foyer, welche die Bände des Tanzbüchleins in einer Vitrine zeigte und die Geschichte und Erforschung des Fundstücks erläuterte.

Für Silvia Bier war der Ball erst ein Anfang: Im Hintergrund steht das Konzept ihres Post-doc-Projektes zu Musik- und Festkultur an kleinen und kleinsten Höfen wie jenem in Thurnau. Dabei schwingt für sie immer der Gedanke mit, wie man die Forschung und ihre Ergebnisse in die Gesellschaft kommunizieren kann und eine gangbare Brücke zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit schafft.

Unterstützt wurde die Veranstaltung durch den Universitätsverein, das Studentenwerk Oberfranken, den Landkreis Kulmbach, Schaulust e.V. und das Forschungsinstitut für Musiktheater. Möglich wurde der Ball durch das unermüdliche Engagement der Studierenden.

Silvia Bier

Dr. Silvia BierForschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth

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