Dass der Konsum von zu viel Zucker oder Fett und zu viel hochverarbeiteten Lebensmitteln und Fertigprodukten ungesund ist, kann selbst die Lebensmittelbranche nicht mehr bestreiten. Aber: „Wenn es um Prävention und Gesundheitsförderung geht, schließt Deutschland im internationalen Vergleich schlecht ab. Insbesondere für den Kinderschutz ist das ein großes politisches Versäumnis“, sagt Dorlach in einem Beitrag für Table Media. Dabei sind die Voraussetzungen für mehr Prävention bereits geschaffen: „An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben.“ So steht es auf Seite 36 im Koalitionsvertrag der Ampel. Schon vor einem Jahr stellte Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, seitdem wird gestritten: Der Widerstand der Lebensmittel- sowie Medienindustrie ist groß. Der Untergang ganzer Industriezweige mit tausenden Arbeitsplätzen wird prognostiziert. „Dabei zeigen Evaluierungen aus dem Vorreiterland Chile, dass Werbeeinschränkungen gut wirken - ohne die oft vorhergesagten wirtschaftlichen Schäden“, sagt Tim Dorlach. 

Er berichtet, dass die chilenische Regierung 2016 das damals weltweit strengste Kennzeichnungsgesetz für Lebensmittel einführte und damit umfangreiche Maßnahmen zur Vermeidung ernährungsbedingter chronischer Krankheiten umsetzte. Die hierzulande vor allem vom Handel gefürchteten Label hat Chile rigoros eingeführt: „Wenn ein Lebensmittel mehr als zehn Gramm Zucker auf 100 Gramm enthält, ziert die Verpackung ein achteckiges Symbol ‚Hoher Zuckergehalt‘“, berichtet Dorlach. In Verbrauchertestes habe sich das als sehr effektiv erwiesen. Parallel dazu startete das chilenische Gesundheitsministerium eine Aufklärungskampagne mit dem Slogan "Wähle Lebensmittel mit weniger Warnkennzeichen. Und wenn sie gar keine haben, umso besser.“

Zu Lebensmittelkennzeichnung und Verkaufseinschränkungen in Schulen kamen Werbeverbote. Dorlach erklärt: „Chile hat die verschiedenen Regeln gestaffelt eingeführt: 2016 wurde in einer ersten Phase ein Zielgruppenverbot implementiert, durch das spezifisch an Kinder gerichtete Werbung verboten wurde. Danach ist die tatsächlich gemessene Belastung von Kindern durch Fernsehwerbung für ungesunde Lebensmittel im Kinderprogramm um zwei Drittel und im Gesamtprogramm um die Hälfte zurückgegangen. 2018 wurde in einer zweiten Phase ein zusätzliches zeitliches Verbot eingeführt, das jegliche Werbung für als ungesund definierte Lebensmittel zwischen 6 und 22 Uhr untersagte. Danach ist diese Belastung dann noch einmal um ungefähr zwei Drittel im Kinderprogramm und um die Hälfte im Gesamtprogramm zurückgegangen.“

Für Dorlach steht fest: „Es besteht wissenschaftlich kaum ein Zweifel daran, dass Werbeeinschränkungen Kinder wirksam vor Werbung für ungesunde Lebensmittel schützen und damit zu einer gesünderen Ernährungsweise beitragen.“

Dennoch wird das Gesetzesvorhaben in Deutschland kritisiert und diskreditiert. „Özdemir tritt Prinzipien des freien Marktes mit Füßen“, schreibt die Landwirte- Publikation „top agrar online“, Privatsendervertreter*innen sprechen dem Vorhaben die Evidenzbasierung ab – sie fürchten Einbußen bei den Werbeinnahmen. So war das vor zehn Jahren in Chile auch, wo verheerende wirtschaftliche Schäden prophezeit wurden. Nun aber stellt sich heraus: Alles nicht so schlimm. Forscher*innen um Guillermo Paraje von der Universität Adolfo Ibáñez in Chile haben schon 2019 die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt untersucht. Und kamen zu dem Schluss: „Weder die Gesamtbeschäftigung noch die durchschnittlichen Reallöhne wurden durch die Vorschriften zur Lebensmittelkennzeichnung beeinflusst.“ Und das, obwohl die chilenischen Maßnahmen insgesamt viel umfangreicher waren als die in Deutschland derzeit diskutierten Werbeeinschränkungen. „Eine weitere Studie deutet darauf hin, dass es auch keinen Rückgang im Gesamtwerbeaufkommen gab, sondern dass Werbung für ungesunde Lebensmittel mit solcher für gesündere Lebensmittel ersetzt wurde“, sagt Dorlach. Sein positiver Ausblick: „Die Lebensmittelindustrie ist insgesamt also anpassungsfähig und wirtschaftliche Ängste scheinen unbegründet.“ Aber er betont: „Selbst wenn strengere Regulierung wirtschaftliche Einbußen mit sich brächten: Der wirksame Schutz von Kindergesundheit rechtfertigt das. Da es keine starke Evidenz gibt, dass Werbeeinschränkungen tatsächlich derartige Schäden für die Lebensmittel- und Medienindustrie bedeuten, wäre es aber besonders fahrlässig, das vom BMEL vorgelegte Gesetz zur strengeren Regulierung von Lebensmittelwerbung nicht umgehend zu verabschieden.“

Tim Dorlach

Prof. Dr. Tim DorlachJuniorprofessur für Globale Ernährungs- und Gesundheitspolitik

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Anja-Maria Meister

Anja-Maria MeisterPressesprecherin der Universität Bayreuth

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